NZZ Standpunkte "Die Spitäler sind nicht wegen der Ungeimpften voll - die Politik will bloss von ihrem eigenen Versagen ablenken"

Yannick Nock 30.11.2021, 05.30 Uhr

Ist sie eine der Letzten, die aussprechen, was viele denken? Oder erzählt sie bloß Räuberpistolen? Klar ist: Sahra Wagenknecht polarisiert wie nur wenige andere. Ein Gespräch über selbstgerechte Linke, vergiftete Debatten - und sie sagt, warum sie sich nicht impfen lässt.

Gendersternchen, Migration, Cancel-Culture: Kämpften linke Parteien früher für höhere Löhne, steht heute oft die Identitätspolitik im Vordergrund. Die Folge: Arbeiter fühlen sich nicht mehr verstanden, wählen stattdessen Rechtspopulisten. Das gilt in der Schweiz wie in Deutschland - und der gesellschaftliche Graben wird immer grösser. Stehen wir vor einem neuen Klassenkampf?

"Es werden Diskussionen geführt, die völlig an den Lebensnöten der Menschen vorbeigehen", sagt die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht. Wer aus einer Arbeiterfamilie komme, habe heute kaum noch Aufstiegschancen. Stattdessen würden Leute moralisch verachtet, die andere Probleme als das Klima hätten.

Wagenknecht mischt seit Jahrzehnten in der deutschen Politik mit. Sie ist promovierte Ökonomin, Publizistin sowie Mitglied des Deutschen Bundestags - und eckt seit je an. So gleichen ihre Argumente manchmal jenen von Rechtspopulisten, in der Corona-Debatte streitet sie sich öffentlich mit den bekanntesten Virologen des Landes, und selbst innerhalb der Linken sorgt sie immer wieder für rote Köpfe. In der jüngsten Sendung von "NZZ Standpunkte" mit dem Chefredaktor Eric Gujer nimmt Wagenknecht ebenfalls kein Blatt vor den Mund. Sie spricht über Erpressung, volle Spitäler und kritisiert die deutsche Impfpolitik.

Es sei völlig unangemessen, die Impfung zu einer moralischen Debatte aufzublasen, sagt Wagenknecht, die selbst nicht geimpft ist. Schließlich gebe es aus gutem Grund keine Impfpflicht. Doch wenn man dieses Recht in Anspruch nehme, werde man nun als "böser Mensch" hingestellt. "Dabei ist es doch so: Wer sich impfen lässt, schützt sich in erster Linie selbst." Denn noch immer gebe es keine Impfung, die tatsächlich verhindere, dass man das Virus weiter übertrage.

"Die Spitäler sind nicht wegen der Ungeimpften voll", sagt Wagenknecht. "Die Politik will bloß von ihrem Versagen ablenken." Die Ursache für die massive Belastung der Krankenhäuser liege woanders: Seit Jahren herrsche ein Pflegenotstand in Deutschland. "Zuerst wurden Stellen abgebaut, dann die Löhne gedrückt und schließlich die Intensivbetten massiv reduziert."

Doch statt darüber zu sprechen, würden nun die Ungeimpften zum Sündenbock gemacht. Das sei eine ganz üble und vergiftete Debatte. "Es ist eine Schande, wenn nun behauptet wird, dass Menschen mit einem Herzinfarkt nicht mehr behandelt werden könnten, weil die Intensivbetten voll mit Covid-Patienten seien." Probleme habe man nur, weil zu wenig Betten vorhanden seien. "Wenn wir kranke Menschen nicht mehr behandeln können, ist das ein Armutszeugnis", sagt die 52-Jährige.

Corona-Test? "Das ist finanzielle Erpressung"

Ähnlich kritisch sieht Wagenknecht, dass Corona-Tests selbst bezahlt werden müssen, wenn Ungeimpfte in ein Restaurant gehen oder eine Vorlesung der Universität besuchen wollen. "Das kostet viel Geld, gerade für junge Menschen." Im schlimmsten Fall müssten manche sogar das Studium abbrechen, wenn sie keine Impfung wollten. "Das ist schlicht finanzielle Erpressung."

"Wir erleben eine unglaubliche Spaltung der Gesellschaft", sagt Wagenknecht. Doch das liege nicht nur an Corona. Die Identitätspolitik der Linken würde ihren Teil dazu beitragen, genauso wie die Unfähigkeit vieler Akademiker und "Gutverdiener", die Probleme der Arbeiterklasse zu verstehen. Das betreffe oft die neue Generation der Sozialdemokraten, die meist in wohlhabenden Elternhäusern aufgewachsen seien.

"Ihnen geht es nicht um Löhne und Renten, denn für sie ist eine Grundversicherung immer da, wenn sie im Zweifelsfall die Eigentumswohnung der Eltern erben", sagt Wagenknecht. Dann sei es einfacher, sich mit missionarischem Eifer dem Klima oder der Flüchtlingssolidarität zuzuwenden. Zudem sei es kaum möglich, Menschen mit einer Botschaft zu erreichen, wenn man die Leute von oben herab belehren wolle. Es sei arrogant, ihnen zu sagen, dass sie doch jetzt bitte schön das Klima wichtiger finden sollten als ihren Arbeitsplatz.

Selbstgerechte Weltansicht statt Hilfe?

Ähnliche Probleme zeigten sich in der Diskussion um die steigenden Benzinpreise. Es sei einfach, auf ein Auto zu verzichten, wenn man sich eine teure Innenstadtwohnung leisten könne, sagt Wagenknecht. Wer aber in ländlichen Gebieten wohne, sei auf ein Fahrzeug angewiesen, um halbwegs mobil bleiben zu können. Doch das würden viele Sozialdemokraten nicht mehr verstehen. "Wer die eigene Weltsicht und seinen Lebenswandel für den Inbegriff der Tugend und des Wohlverhaltens hält, hat wenig Verständnis für die Probleme der Arbeiterklasse."

Wie die Gesellschaft denn wieder näher zusammenrücken könne, will der Chefredaktor Gujer von seinem Gast wissen. Laut Wagenknecht müssen die Meinungsführer verstehen, dass sie aus einem ganz bestimmten Milieu kommen und deswegen nicht die ganze Gesellschaft repräsentieren. Und dass ihre Werte nicht besser oder moralischer seien als jene von anderen Menschen. Zudem sei entscheidend, wieder auf eine Politik zu setzen, die tatsächlich zu Aufstiegschancen und weniger sozialer Ungerechtigkeit führe. Nur so würden die Filterblasen und die Spaltung der Gesellschaft künftig wieder kleiner werden.


Quelle: NZZ